Mehr Unterstützung für Pflegende und Forschung – Präventionsfenster richtig nutzen

Wien/Graz (pts015/19.09.2016/12:15) – Konsequente Prävention, die schon lange vor ersten Anzeichen einer Alzheimer-Erkrankung einsetzen und gefördert werden sollte, mehr Unterstützung für betreuende Angehörige und eine bessere Schulung von Pflegegeld-Gutachtern sowie öffentliche Finanzspritzen für die österreichische Alzheimerforschung: Das sind die zentralen Botschaften von Univ.-Prof. Dr. Peter Dal-Bianco (Wien), Präsident der Österreichischen Alzheimergesellschaft (ÖAG), und Univ.-Prof. Dr. Reinhold Schmidt (Graz), Past Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN) zum Welt-Alzheimer-Tag am 21. September.

Wie zahlreiche andere Organisationen weltweit, machen die beiden Fachgesellschaften an diesem Tag auf die Situation der von Demenzerkrankungen betroffenen Menschen aufmerksam und informieren über aktuelle Entwicklungen in Prävention, Diagnostik und Therapie. Morbus Alzheimer als häufigste Form von altersbedingter Demenz betrifft in Österreich derzeit geschätzte 100.000 Menschen, bis 2050 wird ein Anstieg auf 230.000 prognostiziert.

Betreuungspersonen brauchen Unterstützung – Pflegegeld-Gutachter sensibilisieren

80 Prozent der Alzheimer-Betroffenen werden von Angehörigen betreut, und das unter oft schwierigen Bedingungen, zumal die Erkrankung auch Persönlichkeitsveränderungen mit sich bringt. „Betreuende Angehörige verdienen nicht nur höchste gesellschaftliche Anerkennung für ihre Leistungen, sie brauchen auch mehr konkrete Unterstützung“, so Prof. Dal-Bianco. „Das betrifft zum Beispiel einen deutlichen Ausbau von Beratungs- und Entlastungsangeboten. Und wir müssen sie auch verstärkt dabei unterstützen, dass sie ihre Alzheimer-kranken Angehörigen in den Alltag und das gesellschaftliche Leben einbeziehen können.“

Ein dringliches Problem sei die oftmals zu niedrige Einstufung von Betroffenen beim Pflegegeld, so Prof. Dal-Bianco: „Es ist Teil der Erkrankung, dass Alzheimer-Patienten sehr gut und geübt darin sind, eine geschönte Fassade aufrecht zu erhalten, was ihren Zustand betrifft. Wir müssen also Pflegegeld-Gutachter verstärkt dahingehend sensibilisieren, um eine zu niedrige Pflegegeldeinstufung zu verhindern.“

Konsequente Prävention ab dem mittleren Alter – 7 Schlüsselfaktoren vermeiden

Ein besonderes Anliegen ist es den Experten auch, mehr Bewusstsein für das große Potenzial gezielter Vorbeugung zu schaffen. „Die Alzheimer-Erkrankung entwickelt sich langsam und hat einen langen Vorlauf, bevor es zu klinisch erkennbaren Symptomen kommt“, betont Prof. Dal-Bianco. „Das bedeutet aber auch, dass wir ein sehr großes Präventionsfenster haben, das ab dem mittleren Lebensalter konsequent genutzt werden sollte.“

Sieben zentrale Lebensstil-Faktoren hat die Wissenschaft identifiziert, die das Risiko für eine Alzheimer-Erkrankung deutlich erhöhen: – Depression erhöht das Alzheimer-Risiko um 90 Prozent. – Körperlich Inaktive haben ein um 80 Prozent höheres Alzheimer-Risiko als Menschen, die sich regelmäßig bewegen. – Bei Raucherinnen und Rauchern ist das Alzheimer-Risiko um 80 Prozent erhöht. – Personen mit unbehandeltem Bluthochdruck haben ein um 60 Prozent höheres Risiko für Alzheimer als Menschen ohne Hypertonie. – Ein niedrigerer Ausbildungsgrad ist gegenüber einem hohen Bildungsniveau mit einem um 60 Prozent erhöhtem Alzheimer-Risiko verbunden. – Patienten mit unbehandeltem Diabetes Typ 2 haben ein um 40 Prozent erhöhtes Alzheimer-Risiko. – Es besteht ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen Übergewicht im mittleren Lebensalter und Alzheimer.

Entsprechend sehen auch die Empfehlungen für die richtige Vorbeugung aus, die ab dem mittleren Lebensalter einsetzen sollte: „Multikomponenten-Intervention“ ist das wissenschaftliche belegte Konzept, das aus Bewegung – bevorzugt etwa Wandern, Tanzen oder Schwimmen -, ausgewogener Ernährung mit hohem Obst- und Gemüseanteil, kognitivem Training, dem Pflegen sozialer Kontakte und einer engmaschigen Kontrolle kardiovaskulärer Risikofaktoren besteht.

Entschlüsselung der Krankheits-Entstehung

Fortschritte verzeichnen die Experten bei Früherkennung und den diagnostischen Möglichkeiten. „In den vergangenen Jahren ist es gelungen, Vorstadien, sogenannte Prodromalstadien, der Alzheimer Krankheit zu definieren. Die Alzheimerkrankheit wird heute als Kontinuum gesehen, welches sich über mehr als 20 Jahre erstrecken kann und sich von prä-klinischen Stadien über das Mild Cognitive Impairment (MCI) Stadium bis zur tatsächlichen Demenz entwickelt. Glücklicherweise entwickelt nur ein Teil der Personen mit Alzheimerpathologie im Gehirn auch tatsächlich eine Demenz“, berichtet Prof. Schmidt. „Moderne bildgebende Verfahren wie die MRT, Positronen-Emissions-Tomographie (PET), Amyloid-Imaging und Biomarker aus der Rückenmarksflüssigkeit können dazu beitragen, Personen mit hohem Alzheimerrisiko zu identifizieren, obwohl noch keine oder kaum merkliche Anzeichen einer Demenz bestehen.“

Das wirft aber auch neue Fragen auf, weil etwa die Fehlbewertung eines Biomarker-Ergebnisses sehr weitreichende und belastende Folgen für Betroffene haben kann, die fälschlich davon ausgehen, bald an Alzheimer zu erkranken. Prof. Schmidt: „Wir werden hier auch über neue rechtliche, ethische und medizinische Standards diskutieren müssen, wie die Möglichkeiten der Früherkennung bestmöglich eingesetzt und wie Patienten beraten und betreut werden sollen.“

Innovative Therapie-Strategien

Intensiv arbeiten Wissenschaftler weltweit auch an einer laufenden Verbesserung und Weiterentwicklung der bereits verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten und an neuen therapeutischen Ansätzen. „Die heute eingesetzten Antidementiva wie die Cholinesterase-Hemmer und Memantin können zwar durch die Krankheit hervorgerufene Funktionsstörungen von Neurotransmittern ausgleichen, aber nicht in den Krankheitsverlauf eingreifen oder ihn aufhalten. Das ist das Ziel neuerer Entwicklungen, an denen wir in Österreich führend mitwirken“, so Prof. Schmidt.

Dabei helfen Fortschritte bei den Erkenntnissen über die Entstehungsmechanismen der Erkrankung. Bei Morbus Alzheimer spielen Veränderung des Tau-Proteins, ein Eiweiß, welches für die Aufrechterhaltung des Zytoskeletts und den Nährstofftransport in der Nervenzelle von Bedeutung ist, eine Rolle. Auch weitere pathologisch veränderte Proteine beeinflussen das Krankheitsgeschehen, vor allem Beta-Amyloid. Genau bei diesen Proteinen setzen auch innovative therapeutische Strategien an, wobei insbesondere auf Immunisierungskonzepte gesetzt wird.

Die weltweit erste Tau-Impfstudie bei Alzheimerpatientinnen und -patienten wurde in Österreich – in Wien und Graz – erfolgreich abgeschlossen, weitere Untersuchungen werden derzeit durchgeführt. Andere Forschergruppen entwickeln Immunisierungsstrategien gegen das Beta-Amyloid. Eingesetzt werden monoklonale Antikörper, die nachweislich die Beta-Amyloid-Ablagerungen reduzieren. „Allerdings wissen wir noch nicht, ob der in Studien gezeigte Einfluss auf die pathogenen Eiweiße auch tatsächlich Auswirkungen auf den Patientenalltag und die Lebensqualität hat“, so Prof. Dal-Bianco. „Auch ist derzeit noch nicht klar, wie früh wir diese Impfstoffe einsetzen sollten.“

Investitionen in die Forschung gefordert

Während derartige Projekte zur Entwicklung neuer Therapien auf das Interesse und die Investitionsbereitschaft der pharmazeutischen Industrie bauen können, bestehe auf anderen Gebieten großer Forschungsbedarf, so Prof. Dal-Bianco: „Österreich braucht für eine zielgerichtete Planung des Bedarfs an medizinischen Ressourcen und sozialen Versorgungsstrukturen dringend eigene Daten zur Häufigkeit von Demenzerkrankungen, die wir bisher nur von internationalen Daten hochrechnen können, sowie eine Biobank, um als Partner bei konzertierter internationaler Forschung mitwirken zu können.“

Die Österreichische Alzheimer-Gesellschaft betreibt aus diesem Grund ein groß angelegtes Demenz-Datenbankprojekt, PRODEM-AUSTRIA, in dem klinische Daten über Alzheimer-Patienten gesammelt und wissenschaftlich bearbeitet werden. Es wird von einem Forschungskonsortium österreichischer Gedächtnisambulanzen betrieben und gibt der Demenzforschung in Österreich entscheidende Impulse. Doch die öffentliche Förderung für diese und andere Forschungsbemühungen ist in Österreich dünn gesät, kritisieren die Experten.

„Rechnet man die Fördersumme des Fonds für wissenschaftliche Forschung hoch, so wird in unserem Land jährlich weniger als ein Euro pro Demenzpatient an Forschungsgeldern investiert“, so Prof. Dal-Bianco. „Die US-Regierung investiert bei rund fünf Millionen Betroffenen mehr als eine Milliarde Dollar jährlich in die Alzheimerforschung. Forschung kostet Geld, aber die Machtlosigkeit gegen diese Erkrankungen kommt uns noch viel teurer.“

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